Sonntag, 22.08.2021

Wander(un)lust

Nie. Wieder.
Irland, Wandern und ich, wir werden einfach keine Freunde mehr. Schon wieder klitschnass. Dreckig und stinkend noch dazu. Schon wieder nichts als graue Suppe. Ich dreh durch...


3 Stunden zuvor:
Heute ist Wandertag! Nachdem ich die letzten Wochen wegen des Wetters ja wirklich unmotiviert war, am Wochenende großartig rauszugehen, und auch gestern den verregneten Tag drinnen verbracht habe, schnüre ich heute wieder meine Wanderschuhe. Eine Woche "Sommer"-Wetter ist angesagt und das soll heute - wenn auch zaghaft - beginnen. Gestern Abend habe ich mir in Komoot eine vielversprechende Route herausgesucht, die mich vor allem zum Gipfel des Lugnaquilla führen soll. Das ist einer der Berge aus der 4 Peaks Challenge, nur eine gute Fahrstunde von Dublin entfernt. Gegen halb 9 verlasse ich also an diesem Sonntagmorgen das Haus und setze mich ins Auto.

Unterwegs höre ich ausnahmsweise mal irisches Radio. Habe ich bisher sehr wenig gemacht, weil sie hier uuuunfassbar viel reden statt Musik zu spielen. Aber heute bleibe ich irgendwie hängen und verfolge eine 20-minütige Debatte über die neue Amazon-Serie "Nine Perfect Strangers" und Extrem-Wellness-Ressorts, eine kurze, aber angeregte Unterhaltung über Love Island (UK) und schließlich ein fast halbstündiges Interview mit einer jungen irischen Singer-Songwriterin. Alles irgendwie seichte, aber unterhaltsame Kost, die ganz gut in meinen Sonntagmorgen reinpasst.
Die Straße unter meinen Reifen gleicht wieder mehr einem Feldweg als einer Fahrbahn für Autos. Die Schafe, die mir hin und wieder auf der Straße entgegenkommen, verstärken diesen Eindruck. Ich bin heilfroh, dass ich sie rechtzeitig erkenne, denn die Straße führt mich durch abgelegne Hügellandschaften und - wer hätte es gedacht - es ist super nebelig und es nieselt. Ebenso wie für die Schafe bin ich heute Morgen auch für jeden Radfahrer dankbar, den ich trotz des Nebels nicht über den Haufen fahre...

Ich besorge mir noch schnell ein wenig nahrhaftes und trotzdem super teures Frühstück und immerhin, als ich dann endlich am Parkplatz ankomme (ich war deutlich länger unterwegs als geplant) scheint sogar ein wenig die Sonne. Also schnell was gegessen, währenddessen Schuhe angezogen, Rucksack fertig gepackt und Abmarsch!
Der Parkplatz ist proppenvoll und ich habe am Einstieg des Weges zwei größere Wandergruppen vor mir, die ich aber zum Glück schnell hinter mir lassen kann. Nee, das wäre ja nichts für mich. Hab ich letztes Mal schon gemerkt, als ich tatsächlich selbst Teil einer solchen Gruppe war.

Heute bin ich alleine unterwegs und mir gefällt's. Die ersten 20-30 Minuten führen mich über gut begehbare und als solche zu erkennende Wanderwege, erst durch ein Wäldchen, dann durch ein Tal mit schönem Ausblick auf die umliegenden Berge. Und dann endet der Weg und ich stehe vor einem doch recht steilen Berghang, dessen grüne Oberfläche von reichlich Felsen und kleinen Bachläufen unterbrochen wird. Ein Blick auf mein Handy sagt mir: Da musst du hoch. Während anfangs noch ganz gut ein Trampelpfad zu erkennen ist, muss ich nach einer Viertelstunde im Hang immer wieder anhalten, um zu sehen, wie ich wohl am besten weitergehe - Weg Fehlanzeige. Ich bahne mir also einfach irgendwie im Zickzack und mit kleinen Klettereinlagen meinen Weg nach oben. Geschafft - in 1:15 h ganze 3,2 km, haha.

Oben angekommen erstreckt sich vor mir ein weites Plateau mit moorigem Wiesenuntergrund. Und Schafen. Ich mache eine kurze Rast und genieße dabei die Aussicht über das Tal, in dem ich gerade noch gestanden habe. Dann ein Blick hinter mich und ich krame widerwillig meine Regenjacke aus dem Rucksack, weil gerade eine dicke, graue und ziemlich feucht aussehende Nebelwand über den vor mir liegenden Bergkamm und direkt auf mich zurollt. Na toll. Kurze Zeit später war es das dann auch mit der Aussicht. Aber ich habe mir heute vorgenommen, für jegliches Wetter dankbar zu sein, das nicht Regen ist. Und das habe ich weiterhin, also kein Grund zur Beschwerde!

Der zunehmende Nebel erschwert die Suche nach dem Weg allerdings weiter. An den matschigeren Stellen lässt sich immer mal wieder ein Trampelpfad erkennen. Mir kommen auch ab und zu eifrige und durch die Bank weg gut gelaunte Wanderer entgegen. Das beruhigt mich, denn dann scheint meine Richtung ja grob zu stimmen. Ich finde es aber doch ungewohnt, dass hier wirklich so gar nichts ausgeschildert bzw. wenigstens markiert ist (war es übrigens auf den Carrauntoohil auch nicht). Die Menge der Wanderer, denen ich begegne, spricht ja doch dafür, dass das hier ein durchaus beliebtes Wanderziel ist. Und die Leute hier sind definitv nicht allesamt top erfahrene Outdoorprofis mit ausgezeichneten Karten- und Kompass-Lesekenntnissen. Natürlich gefällt es mir, dass die Natur hier so unberührt ist! Ich finde aber, die Markierungen, die man z.B. in den Alpen oft auf Felsen findet, sind da ein guter Kompromiss. Zumal sich das Fehlen von Wegen und Markierungen hier doch wahrscheinlich nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes als Touristenfalle entpuppt...?

Während ich so vor mich hingehe denke ich auch kurz darüber nach, ob der unbeständige, das heißt mal mehr und mal weniger matschige, Untergrund auch ein Risiko darstellt. Ich entscheide mich für 'Nein'. Die dichte und scheinbar tief verwurzelte Wiese, die die Oberfläche zusammenhält, scheint mir doch stark genug, um treibsandähnliche Moor-Szenarien à la Indina Jones zu verhindern. Außerdem guckt man ja, wo man hintritt...
PLATSCH!
Ich stehe im Wasser. Nein, im Matsch. Bis zur Hüfte. Erste Versuche, mich "an Land" zu bringen zeigen außerdem: ich stehe nicht, ich stecke. Fest. Ich kann nicht anders, aber ich muss lachen. Ist wahrscheinlich auch besser als in Panik zu verfallen.
Scheinbar hab ich aber während meines Abgangs kurz aufgeschrien, denn ein Paar, das nicht weit vor mir den nächsten Hang besteigt, ruft: "Ist alles okay bei dir???" - "Ähm ja, danke, mir geht's gut. Aber... Ich glaube, ich könnte Hilfe gebrauchen!" Meine Retter sind schon unterwegs. Ein sympathisch aussehender Mann versucht, so nah wie möglich an mich heranzukommen, ohne dabei selber in meinem netten Sumpfloch zu landen. Er steht schließlich hinter mir und reicht mir seinen Arm. Es ist echt komisch (man könnte wohl auch sagen, angsteinflößend), denn ich kann mich wirklich kaum bewegen. Ich schaffe es irgendwie, meinen Oberkörper weit genug zu ihm herumzudrehen und seinen Arm zu greifen, mehr kann ich aber nicht beitragen. Mein Retter - Owen, wie ich später erfahre - ist aber glücklicherweise stark genug, um mich auch ohne mein Zutun aus dem Sumpf zu ziehen.
"Ich hatte ein wenig Angst, dir den Arm rauszureißen." und "Wir wollten eigentlich gerne ein Foto machen, aber dann wollten wir doch erst sichergehen, dass du dich nicht verletzt hast.", sind die Gedanken, die er im Nachhinein noch mit mir teilt. Für einen kurzen Augenblick hatte ich tatsächlich selber überlegt, nach einem Foto zu fragen. Muss ja schon ziemlich lustig ausgesehen haben. Und tatsächlich genehmigen wir uns ein paar verlegene und vielleicht auch erleichterte Lacher und Owen selbst und andere vorbeikommende Wanderer berichten ebenfalls von steckengebliebenen Beinen. Wir tauschen uns noch kurz über den restlichen Weg bis zum Gipfel und den Rückweg aus, dann gehe ich weiter.

Eine Minute später ist mir der Spaß an der Sache dann vergangen. Dank meiner klitschnassen Hose und Schuhen habe ich mich gedanklich schon damit abgefunden, Owens Rat zu befolgen und nicht meine geplante 16 km Runde zuende zu bringen. Außerdem wird es mit jedem Schritt weiter den Berg rauf immer nebliger und ich bin schließlich total genervt. Es ist nicht mal, dass ich friere oder so, das Wasser war überraschend warm und es ist heute nicht so windig - aber die Tatsache, dass meine Wanderung heute scheinbar schon wieder unter so einem schlechten Stern steht, frustriert mich tierisch. Hinzukommt, dass es mich allmählich auch beunruhigt, dass ich mich ausschließlich auf mein Handy verlassen muss, um den "Weg" zu finden. Der Nebel ist so dicht, dass ich Owen und seine Frau, Gillian, hinter mir zwar hören, aber nicht sehen kann.
Um nicht ganz verloren zu gehen, schließe ich mich den beiden kurzerhand für die letzten hundert Meter bis zum Gipfel an (wo auch immer der sein mag). Wir plaudern ein wenig und Owen bietet mir an, dass ich den direkten Rückweg mit ihnen gemeinsam gehe. Dieses Angebot nehme ich dankend an, auch wenn mir der "Abbruch" meiner Tour trotz oder vielleicht sogar wegen der Umstände absolut widerstrebt.

Aber irgendwie hat ja doch alles im Leben seinen Sinn und so kommt es, dass wir drei uns auf dem Rückweg super gut unterhalten, über Gott und die Welt. Somit sind die zwei heute wohl nicht nur meine Lebensretter, sondern haben mir auch noch anderthalb gesellige Stunden und gute Laune geschenkt.
(Wir stellen im Laufe der Gespräche sogar fest, dass die beiden mit ihren drei Kindern nur 3 Straßen von mir entfernt wohnen. Owen findet diesen Zufall so abwegig, ich glaube, er denkt, ich veräppel ihn.)

Als ich schließlich wieder an meinem Auto ankomme ist meine Sportleggins netterweise wieder trocken und ich kann den Schlamm abklopfen. Meine Schuhe hingegen hat es wieder ganz schön hart erwischt. Ich bin heilfroh, dass ich immerhin Wechselsocken- und schuhe dabei habe.
Jetzt heißt es nur noch: nach Hause kommen, duschen, Klamotten in die Waschmaschine stopfen und Schuhe waschen. Für mehr wird es heute wohl nicht mehr reichen.

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Ich habe das Gefühl, ich sollte vielleicht noch ein, zwei Dinge hierzu sagen:
Ja, ich habe im Nachhinein über die Situation gelacht und auch am Montag auf der Arbeit haben wir unsere Witze darüber gemacht. Aber mir ist doch durchaus bewusst, dass ich hier ziemliches Glück im Unglück hatte und das Ganze nicht ohne war.
Ein großes Dankeschön also an alle, die mir auf die ein oder andere Art Schutzengel mit auf den Weg gegeben haben!
Ich habe noch nicht endgültig entschieden, welche Konsequenzen ich aus dieser Erfahrung ziehe. Es war zwar ohnehin nicht meine Absicht, das Land immer alleine zu erkunden, aber ich möchte mich auch nicht komplett davon abhängig machen, jedes Mal eine Begleitung finden zu müssen, wenn ich wandern möchte. Mal sehen, ich lasse mir etwas einfallen.


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